
An der rechten Spitze Nordrhein-Westfalens (NRW) offenbart sich ein Dorf mit Charme und Charakter: Schlüsselburg an der Weser – ein Ortsteil von Petershagen, der sichtlich darauf wartet, entdeckt zu werden. Historische Bauernhöfe, ein ‚Schünenvertel‘, eine Burg, die an Minden erinnert, eine Kirche aus dem 16. Jahrhundert und eine Staustufe mit ‚Schokker‘ sind längst nicht alles, was man in dieser Kleinstadt erkunden kann.
Wer sich, wie wir am vergangenen Sonntag, auf Spurensuche hoch oben im rechten Zipfel NRWs begibt, sollte – aus Minden an der Weser kommend – spätestens in Schlüsselburg eine ‚Vollbremsung‘ machen. Im nördlichsten Teil Petershagens gelegen gibt es in diesem Dorf so viel zu entdecken, dass eine Nachmittagsstunde nicht ausreicht, alle Eindrücke einzufangen. Aber das, was wir mitbringen, hat schon eine Menge Geschichte aufzuweisen. Los geht’s:
Verlassenes Dorf, künstlich errichtet oder echt? Das ‚Schünenvertel‘
An diesem Platz steht man sprichwörtlich ‚wie der Ochse vor dem Scheunentor‘. Magisch angezogen, aber ratlos. Ist das ein verlassenes altes Dorf? Kann nicht sein, sind ja alles Scheunen – über 20 an der Zahl. Infotafel? Fehlanzeige. Aber ein Hinweis an einer ‚Hütte‘: „In Erinnerung an Wolfgang Bartzik † 28.12.2017 Er war maßgeblich am Bau dieser Scheune tätig ‚Dat Schünenvertel‘ Schlüsselburg im Mai 2018“. Ist ja nicht solange her, also muss hier ordentlich was losgewesen sein im Mai. Bestimmt sind die Scheunen alle mit schwerem Gerät hierher gebracht worden, um sie zu erhalten. Schließlich stehen sie ganz dicht nebeneinander, so baut doch keiner. <Trööt!> Fehlanzeige. Eine Recherche bringt ans Licht:
Das immer wiederkehrende Hochwasser der Weser, die enge Bebauung des Ortes wie auch Brandkatastrophen in den Jahren 1617 bis 1711 (siehe Brandbericht aus Schlüsselburg) haben die Schlüsselburger wohl dazu veranlasst, im 18./19. Jahrhundert die ‚Scheunen vor den Toren‘ (das heißt außerhalb der Hofstätten) zu errichten, um dort ihre Ackergeräte, Erntevorräte, das Saatgut sowie vor allem Heu und Stroh trocken und geschützt zu lagern.

Bei dieser Ansammlung von 26 historischen Scheunen auf engstem Raum handelt es sich demnach um das Schlüsselburger Scheunenviertel, im Plattdeutschen ‚Schünenvertel‘ genannt – eines von vielen Scheunenvierteln in Deutschland, das in seiner ursprünglichen Bauart des Zweiständerfachwerks (auf zwei Hauptständer-Reihen errichtet, siehe z.B. fachwerk-lehmbau.de) erhalten geblieben ist. Zum Teil werden die architektonisch wie geschichtlich wertvollen Gebäude vermutlich noch heute für die Landwirtschaft genutzt (an einigen Scheunen hängen Vorhangschlösser).
Da seit den 1970er Jahren die Scheunen vom Verfall bedroht waren, gründete sich am 9. Juli 2008 der Verein ‚Dat Schünenvertel‘ – Arbeitskreis Schlüsselburger Scheunenviertel. In enger Zusammenarbeit mit der Stadt Petershagen und mithilfe von Fördermitteln des Agrarministeriums (Maßnahme ‚Integrierte ländliche Entwicklung‘ des ‚NRW-Programms Ländlicher Raum 2007-2013‘) kümmern sich die Schlüsselburger seitdem um ihr bäuerliches Schätzchen und restaurieren es liebevoll nach und nach. An dieser Stelle klärt sich auch der genannte Hinweis an der ‚Hütte‘ auf:
Diese Scheune hat die Kulturgemeinschaft am 24. Oktober 2008 für einen symbolischen Kaufpreis von 1,00 Euro übernommen. Nach über 2000 Arbeitsstunden konnten die Vereinsmitglieder schließlich am 1. Mai 2012 ihre erste sanierte ‚Infoscheune‘ präsentieren. Da Wolfgang Bartzik laut Ausführungen des Scheunenvereins wohl die meiste Arbeit in die Restaurierung steckte, aber am 28. Dezember 2017 verstarb, wurde ihm zu Ehren im Mai 2018 eine Gedenktafel am Gebäude angebracht.
Das Schlüsselburger ‚Schünenvertel‘ ist also weder künstlich errichtet noch ein Dorf, sondern eine echte historische Stätte im Norden Nordrhein-Westfalens.
Burg Schlüsselburg – nicht zu verwechseln mit dem Rittergut
„Die sieht ja aus wie in Haddenhausen.“ Ist man in der Stadt Minden ansässig und hat schon mal das Rittergut Haddenhausen der Familie von dem Bussche besucht (z.B. zum ‚Tag des offenen Denkmals‘, siehe unser Bericht von 2017), erkennt man unweigerlich eine Ähnlichkeit, wenn man vor der Burg Schlüsselburg steht – wohlgemerkt vor der ‚Burg‘, nicht vor dem Rittergut Schlüsselburg. Das Rittergut ist wesentlich größer und liegt am rechten Weserufer bei Wasserstraße (ein Ort, der wirklich so heißt). Die Burg Schlüsselburg liegt am linken Weserufer im Stadtkern und ist der Rest einer ursprünglich zweiflügeligen Burganlage aus dem 16. Jahrhundert – aber mit wesentlich älterer Geschichte:

Benannt nach dem Wappenzeichen des ehemals römisch-katholischen Bistums Minden (im Wappen befinden sich zwei Schlüssel, die sich bis heute in verschiedenen Wappen des Kreises Minden-Lübbecke wiederfinden) diente Burg Schlüsselburg einst zur Absicherung der Nordgrenze des Bistums. Ehemals von einem Wassergraben umgeben (EBIDAT klassifiziert sie als Wasserburg) wurde 1335 eine mittelalterliche Anlage von Bischof Ludwig von Minden zum Schutz des Stifts gegen den Drang des Grafen von Hoya, sich über die gesamte Mittelweserregion ausbreiten zu wollen, errichtet.
Doch schon wenige Jahre später führte die dauernde Finanznot der Mindener Landesherren zur Verpfändung der Burg gegen erhebliche Kredite an Vertreter des heimischen Adels. So gelangte die Burg im 14./15. Jahrhundert in Besitz der Familie von Münchhausen (womit ein Zusammenhang zum erwähnten Rittergut Haddenhausen hergestellt ist), vom 15. bis 17. Jahrhundert in Besitz der Familie von Klencke (siehe Schloss Hämelschenburg), wurde zum Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) zum brandenburgischen Amtshaus Schlüsselburg, ging 1822 in das Eigentum des Dr. Johann Georg von Moeller über (seine Nachkommen errichteten das Rittergut Schlüsselburg), gelangte 1846 in den Besitz der Gemeinde Schlüsselburg, beherbergte bis 1934 die Amtsverwaltung und bis 1961 die Schule.
Zwischenzeitlich ’nagte‘ aber das Alter an den historischen Gemäuern. Von der ehemaligen Gesamtanlage mit zahlreichen Nebengebäuden blieb scheinbar nichts mehr übrig. Ob die kleine Hütte auf dem Grundstück hinter der Burg (siehe Fotostrecke) ein Überbleibsel aus dem 14./15. Jahrhundert ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt nicht nachvollzogen werden. Auch der mit der Jahreszahl 1716 und den Buchstaben TR oder FR eingemeißelte Stein an der Einfahrt gibt Rätsel auf, ebenso wie das darüberliegende in Stein gemeißelte ‚Gesicht‘, das auch ein Boot mit zwei Insassen zeigen könnte.
In den Jahren 1581 bis 1585 ersetzte jedenfalls ein zweiflügeliger Neubau die mittelalterlichen Baulichkeiten. Aber auch davon ist nur noch ein Flügel vorhanden – der Nordflügel wurde im 19. Jahrhundert abgerissen. Die Anlage, wie man sie heutzutage vorfindet, stammt somit wohl aus dem 16. Jahrhundert.

Letztendlich wurde Burg Schlüsselburg im Jahre 1971 von der Familie Swoboda erworben. Hausherrin Ellen Swoboda (85) wohnt nun schon über 40 Jahre hinter den geschichtsträchtigen Mauern und stellt seit 1985 den großen Saal und das Kaminzimmer der Burg für klassische Konzerte kostenfrei zur Verfügung, zuletzt Anfang September dieses Jahres. Überhaupt scheint die Dame des Hauses offen gegenüber Besuchern zu sein. Am Sonntag fanden wir weit geöffnete Tore vor, konnten das Gelände ungehindert betreten und so ein paar Eindrücke vom Innenhof mitbringen (siehe unsere Bildergalerie).
Dass es an Burgen halt immer was zu Sanieren gibt, zeigt das Baugerüst an der Fassade zum Haupteingang.
Altes Pfarrhaus wurde zur Pilgerherberge
In unmittelbarer Nähe der Burg befindet sich das ‚Alte Pfarrhaus‘ – genau genommen das fünfte, das auf diesem Grundstück errichtet wurde, nachdem die Vorgänger aus der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1909 entweder Bränden zum Opfer fielen oder der Erhalt schlichtweg zu teuer wurde. Durch den Architekten Meswarb 1909/10 erbaut findet man nun einen repräsentativen Wohnbau mit zwei Vollgeschossen in Backsteinbauweise vor.

Nachdem 2008 das letzte Pfarrer-Ehepaar auszog, stand das Gebäude leer. Erst mit der Einrichtung der 170 Kilometer langen Pilgerstraße ‚Sigwardsweg‘ (benannt nach Sigward, dem 25. Bischof von Minden 1120–1140) im September 2009, die von Minden nach Idensen führt, kam wohl die Idee auf, das ‚Alte Pfarrhaus‘ in Schlüsselburg wiederzubeleben. Von der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde in die Hand genommen wurde das Pfarrhaus zur ‚Pilgerherberge Schlüsselburg‘ hergerichtet und am 23. Juni 2012 offiziell eröffnet.
Seitdem können Pilger an diesem siebten Anlaufpunkt wie auch Fahrradtouristen, die am Weserfernradweg unterwegs sind, in der Herberge ihre müden Beine ausruhen und in Hotelzimmern übernachten.
Kirche Schlüsselburg trotzte allen Angriffen
Wie nicht anders zu erwarten, trotzte wie viele Kirchen Deutschlands auch die Evangelisch-Lutherische Kirche Schlüsselburg – ebenfalls direkt an der Hauptstraße „Vorburg / Hohe Straße“ gelegen – den Kriegen und Katastrophen längst vergangener Tage.
1585 als massiver Saalbau unter einem Steindach aus Sollingplatten mit niedrigem Westturm errichtet, wurde lediglich das Innere der Kirche über die Jahrhunderte verändert. So stammt beispielsweise der Flügelaltar aus dem Jahre 1627 und die Kanzel (gestiftet von Drosten Clamor von dem Bussche und seiner Frau Anna Lucia von Münchhausen) aus dem Jahre 1676.
Neben der Kirche stehen zwei Kirchenglocken aus dem Jahre 1921, für deren Anschaffung seinerzeit die Margarethenglocke aus dem Jahre 1541 geopfert wurde. Heute befindet sich im Kirchturm ein Dreiergeläut, das im Jahr 1974 gegossen wurde.
Ansonsten ist die Schlüsselburger Kirche von außen einfach sehenswert.

Staustufe Schlüsselburg mit Kraftwerk
Die Staustufe Schlüsselburg ist wohl eine der wichtigsten Anlagen in der Kleinstadt, hält sie doch seit den 1950er Jahren den Wasserstand möglichst gleichbleibend, um die Wasserstraße für große Schiffe passierbar zu machen, und schützt so die Bewohner vor Hochwasser.
Das mag nach der Hitzewelle in diesem Jahr, die unter anderem zu dramatisch niedrigen Pegelständen der Weser führte, zwar kaum vorstellbar sein, aber der Klimawandel ist im vollen Gange und hat schon zahlreiche Dörfer und Städte weltweit unter Wasser gesetzt. Da kann eine Staustufe im Ort sehr sinnvoll sein und vielleicht Schlimmeres verhindern.
Das Stauwehr wurde jedenfalls 1956 erbaut und beinhaltet ein Laufwasserkraftwerk, das fließend Wasser (Wasserkraft) in elektrischen Strom umwandelt, somit eine höchst regenerative Energiequelle darstellt. Im Vergleich zu früher, als viele kleine Mühlen an Flüssen und Bächen die Energie an die Mühlenräder übertrugen, sind Wasserkraftwerke einfach technisch effizienter.

Besitzer des Laufwasserkraftwerks Schlüsselburg ist seit dem 1. Januar 2009 der norwegische Energiekonzern Statkraft, der auch die Staustufe Petershagen betreibt (sowie weltweit in zahlreiche Energieprojekte investiert). Innerhalb Europas ist das Unternehmen mit Hauptsitz in Oslo nach eigener Aussage als der größte Erzeuger von erneuerbaren Energien (Wasser, Wind, Gas, Biomasse, Photovoltaik) bekannt.
Inwieweit die Staustufe mit Kraftwerk in Schlüsselburg unter dem aktuellen Niedrigpegel leidet (z.B. den Betrieb zurückfahren muss), ist uns nicht bekannt. Aber der niedrige Wasserspiegel war am Sonntag deutlich erkennbar. Dort, wo die Staustufe eigentlich unter Wasser stehen sollte, war fast nur noch Beton sichtbar. Positiv betrachtet: Wer schon immer mal wissen wollte, wie eine Staustufe aufgebaut ist, bekommt seit ein paar Wochen die beste Gelegenheit dazu.
Aber das Beste daran: Die Staustufe Schlüsselburg ist mit dem Auto befahrbar. Sie dient somit gleichzeitig als Brücke zwischen linkem und rechtem Weserufer, zwischen Schlüsselburg und dem Ort Wasserstraße. Für Radfahrer und Fußgänger ist sie gleichermaßen geeignet.
Der ‚Schokker‘ kommt zum Schluss
Nun krallen Sie sich fest, jetzt kommt der ‚Schokker‘. Zu Fuße der Staustufe liegt tatsächlich ein schwimmendes Schiffswrack auf der Weser vor Anker. Schade, dass um 18 Uhr kein Nebel zu sehen war, sonst hätte es glatt in der Dunkelheit als ‚Geisterschiff‘ durchgehen können.
In Wirklichkeit handelt es sich um ein Fischereisegelschiff (auch ‚Schokker‘ genannt) eines bis ins 19. Jahrhundert gebräuchlichen niederländischen Schiffstyps. Schokker zeichneten sich früher durch den sogenannten ‚Schokkerbaum‘ aus – eine ausschwenkbare Vorrichtung zum Fischfang mit Schleppnetz.
Und wovor warnt ein Schild am Ufer? Vor ausgebreiteten Fischfangnetzen im Wasser. Also entweder ist das museumsreif oder hier angelt einer tatsächlich noch Aale oder andere Fische von diesem historischen Schiff aus per Schleppnetz aus der Weser.

So, mit diesem Fragezeichen auf der Stirn ermuntern wir Sie, liebe Leserinnen und Leser, den mittlerweile 683 Jahre alten Petershäger Ortsteil Schlüsselburg hoch oben am rechten Zipfel NRWs einmal selbst zu erkunden – ob zu Fuß auf dem Pilgerpfad, per Rad oder mit dem Auto – im Hellen oder Dunkeln. Dort gibt es noch viel mehr zu entdecken.
Jetzt aber zu unserer vollständigen Bildergalerie:
Textquelle: Wikipedia/Wikiwand, schluesselburger.de, fachwerk-lehmbau.de, EBIDAT Burgdatenbank, C. Skodock, mt.de, AG Weserland, nw.de, Pfarrhäuser in Nordwestdeutschland (eBook auf Google Books), sigwardsweg.de, Angaben auf Infoschildern, OctoberNews